Wie bereits berichtet, hatte ich bisher keine Aborigines in Australien gesehen. Dies hat sich nun geändert. Ohne mich besonders vorzubereiten, bin ich am vergangenen Freitag in den Bezirk Redfern gelaufen- hier leben viele Aboriginal people. Ich habe einige Fotos gemacht und mich dann mit einer Aboriginal-Frau, Tanya, über die Lebensbedingugen in Redfern unterhalten.

Mit den Aboriginals habe ich bisher immer etwas mysteriöses und märchenhaftes verbunden; die Idee der Traumzeit schwirrte in meinem Hinterkopf. Was ich vorgefunden habe, ist die ernüchternde Lebenssituation einer unterdrückten Minderheit im eigenen Land: voller Drogen, Depression und Lethargie. Aber es gibt dennoch einen kleinen Hoffnungsschimmer am Horizont.

Ausflug ins Ungewisse
Eigentlich wollte ich am letzten Freitag ja nur kurz Briefmarken kaufen gehen- und dann ist doch alles anders gekommen. Seit ich in Australien gelandet bin, wollte ich schon immer sehen, wie denn die Aborigines in Sydney leben. Ich hatte gehört, dass sich in der Nähe der Eisenbahn-Station “Redfern Station” (vergleichbar mit einer S-Bahn-Haltestelle), eine Aborigine-Community befindet. Ich war schonmal kurz auf die Community aufmerksam geworden, als ich vor einigen Wochen vom Granny Smith Festival wiederkam. Eine Frau sprach mich damals von der Seite an, als ich von der Redfern Station nach Hause gelaufen bin. Ich habe sie damals nicht richtig verstanden; im Nachhinein betrachtet wollte sie mir aber anscheinend Drogen verkaufen. Schon damals konnte ich am Ende der Straße eine Hauswand erkennen, auf die eine riesige Aborigine-Fahne aufgemalt wurde.

Redfern grenzt süd-westlich an Chippendale an, ist also nur einen zehn-minütigen Fußmarsch von meinem Wohnhaus entfernt. Und doch scheinen ganze Welten- ja, vielleicht sogar UNIVERSEN zwischen der Shepherd Street in Chippendale und der Louis Street in Redfern zu liegen. Nachdem ich einige Fotos von der Umgebung gemacht hatte, wurde ich auf eine kleine Gruppe von Frauen und Kindern aufmerksam.

Ich spreche eine der Frauen an und frage sie, ob sie in Redfern geboren sei und was sie von dem Leben hier halte. Sie stuft mich scheinbar als ungefährlich ein, stellt sich mir als Tanya vor und packt ihre Flasche Bier wieder aus, die sie vor meinem Fotoapparat versteckt hatte. Tanya sitzt mit einer Freundin und zwei, drei Kindern auf dem Boden- sie können von hier aus die Redfern-Station sehen. Ich erzähle den Frauen, dass ich aus Peru komme und bin verwundert, als mich Tanya sofort auf die Inkas anspricht. Man merkt ihr an, dass sie eine sehr intelligente Frau ist, die perfekt Englisch spricht und scheinbar eine gute Schulbildung genossen hat. Ich schätze ihr Alter auf circa 35 Jahre. Dann nimmt sie einen Schluck aus der Flasche…

“Have you never heard the story of the white men that came from the universe?”, fragt Tanya und schaut mich dabei verwundert und zweifelnd zugleich an, als ich verneine. Sie fragt weiter: “Where do YOU think, white men come from? Where do you think, white men were BORN?” Sie macht eine kurze Pause, erwartet aber keine Antwort und fährt mit Nachdruck fort: “They came from another universe! That’s where they’re from!”

Ich bin perplex und weiß erstmal nicht, was ich davon halten soll. Ich dachte zuerst, sie wollte mir eine Geschichte von Aliens oder von Menschen aus dem All erzählen. Aber “Weiße Menschen aus dem Universum”? Nie davon gehört… Also versuche ich erstmal, mich in ihre Situation zu versetzen. Dies ist gar nicht so einfach, denn: ich habe mich bisher noch nie intensiv mit Aborigenes und deren Kultur auseinandergesetzt. Mein Wissen über indigene Völker und Kulturen beschränkt sich nur auf Lateinamerika. Ich versuche trotzdem irgendwie, dieses versteckte Wissen abzurufen- und siehe da, es hilft. Nach kurzer Zeit wird mir bewusst, dass hinter der Geschichte über die “Weißen Menschen aus dem Universum” etwas viel Tiefgründigeres, als die reine Geschichte stecken muss. Dazu aber später mehr.

Tanya führt ihre Erläuterungen weiter aus. Sie redet ein wenig über die seltsamen Eigenheiten der “weißen Menschen”, die Australien vor über 200 Jahren kolonisiert haben: “White men live in houses and settle down quickly. They don’t live like nomads, not like we do. We like to wander around and enjoy the freedom of the vast country.”

Kolonisierung: Profit für die Einen, Schock für die Anderen
Ich muss an dieser Stelle an die verschiedenen Strategien denken, mit denen Europäer die Welt kolonisiert haben. So weit ich weiß, werden grundsätzlich zwei Strategien unterschieden.

  1. Als die Spanier und Portugiesen Lateinamerika kolonisierten, hatten sie die Absicht, die materiellen und menschlichen Ressourcen der späteren Kolonien zu “ernten”. Im Klartext: man wollte möglichst viele “Ureinwohner”, also Indigenas, am Leben lassen, um sie später in Minen und in der Landwirtschaft als Arbeitskräfte auszubeuten. Man versklavte die Bevölkerung also, mit Erfolg.
  2. Die Briten hatten für die heutigen USA und Australien eine andere Strategie. Da es sich bei den Briten größtenteils um Leute handelte, die sich in den Kolonien neue Existenzen aufbauen wollten, interessierten sie sich nur für große Grundstücke und den persönlichen Profit. Die Siedler hatten kein Interesse und kein Bedürfnis für die “Ureinwohner”- also wurden sie vertrieben und getötet. Sklaven wurden aus Afrika “importiert”. Dieser Prozess dauerte in den USA über zwei Jahrhunderte, also von circa 1620 bis 1820. In Australien begann die Kolonisierung erst viel später, als in den USA, nämlich in 1788. Die Briten schafften es innerhalb kürzester Zeit, sich den ganzen Australischen Kontinent unter den Nagel zu reißen- das Schicksal der Aborigines interessierte niemanden. Hinzu kam, dass die Kolonisierung Australiens erst sehr spät begann, die Briten also viel modernere Mittel zur Verfügung hatten: die Kartographie war fortgeschritten, die Waffen effektiver und die Eisenbahn erleichterte die Erschließung des Binnenlandes. Offiziell waren die Aborigines 1830 “besiegt”, also nur knapp 40 Jahre nach der ersten westlichen Siedlung auf dem fünften Kontinent.

Bei soviel Ignoranz der Kolonisatoren wird schnell deutlich, warum die heutigen Aborigines (als Minderheit im eigenen Land) unter so unwürdigen Bedingungen leben müssen. Diesen “Kolonisierungs-Schock”, der gerade mal 200 Jahre her ist, haben die Aborigines noch lange nicht überwunden. Ihre über 40.000-Jahre alte Tradition wurde innerhalb kürzester Zeit vom Tisch gewischt- ohne Rücksicht auf verlusste. Auch die heutigen Ansätze der Australischen Regierung, die Aborigines in die “westliche” Gesellschaft zu integrieren, schlagen meist fehl- wie man am Beispiel Redfern sehen kann.

Zwischen Ohnmacht und Stolz- die Situation der Aborigines
Während wir sprechen, kommen immer wieder Männer und Frauen bei Tanya vorbei und kaufen vor meinen Augen Drogen. Ich kann erkennen, wie kleine Päckchen gegen Geld getauscht werden. Einige Päckchen enthalten scheinbar Marihuana; andere ein weißes Pulver, vermutlich Crystal- eine Droge die in Australien aber auch in Deutschland immer mehr zum Problem wird, vor allem weil sie sehr günstig zu kaufen ist. [Siehe FAZ bericht: Droge „Crystal“ - Wenn das Gehirn brennt]

Obwohl ich geschockt bin, dass so offensichtlich mit Drogen gedealt wird, kann ich diese Menschen nicht verurteilen- hatten sie denn je wirklich eine Wahl? Wenn man sich bewusst macht, dass die Aboriginals innerhalb kürzester Zeit in eine neue, ihnen fremde Gesellschaft gezwungen wurden, glaube ich: sie hatten keine andere Wahl. Dennoch gibt es Hoffung.

Tanya erzählt mir, dass “ein Freund” von ihr vor kurzem ein Schulgebäude in Redfern gekauft hat- es soll renoviert werden und den Kindern aus dem Bezirk eine Zukunft bieten. Tanya hat früher selbst schonmal in einer Schule unterrichtet- das will sie wieder tun. Außerdem soll in der Straße, in der heute Drogenabhängige und Alkoholiker rumsitzen, ein “Zentrum für Frauen” eingerichtet werden. Die Australische Regierung hat vor kurzem ein Programm zur Bekämpfung häuslicher Gewalt gestartet- dies scheint auch den Aboriginal-Frauen zugute zu kommen. [Siehe: Violence Against Women, Australia Says No]

Ausserdem wird im nächsten Jahr die Regierung neu gewählt. Tanya hofft, bis dahin wieder einige Aborigines mobilisieren zu können und auf ihre Situation in der Öffentlichkeit aufmerksam zu machen. Dies stimmt sie scheinbar nachdenklich. Tanya lässt ihren Blick über die Wandgemälde auf der anderen Straßenseite schweifen, sieht die Arbeitslosen unter Bäumen trinken und dann die Aboriginal-Fahne auf einer Hauswand; im Hintergrund die Siedlung der “Weißen Menschen”.

“We like it in Redfern. It’s great here,” sagt mir Tanya zum Abschluss unseres Gesprächs. Stolz schwingt mit in ihrer Stimme, als sie dies sagt- aber es klingt auch ein wenig so, als wolle sie sich nochmal selbst davon überzeugen, dass alles “great” ist. Dann fügt sie hinzu: “People might say we’re the poorest community in Sydney- but we’re rich in love.”

Mit diesem Satz im Hinterkopf mache ich mich auf den Heimweg. Ich habe heute Einiges gelernt- vor allem ist mir bewusst geworden, wie weit ich tatsächlich von Europa entfernt bin; nicht nur geographisch. Das letzte was ich von Redfern sehe, als ich um die Ecke zurück in die “Zivilisation” biege, ist allerdings eine Polizeipatrouille: zwei Polizisten schlendern siegessicher mit verschränkten Armen auf eine Frau zu, die auf dem Boden kauert. Vermutlich eine Drogenkontrolle…

2 Responses to “White men from the universe – ein Ausflug nach Redfern”

  1. on 11 Dez 2006 at 00:06Anette Jochum

    Hallo Yannick,
    interessanter Artikel, wirklich!
    Gruß
    Mama

  2. on 22 Dez 2006 at 09:39Marten

    mehr davon mi amigo