[inspic=118,left,fullscreen,300]In einem staubigen Tal, anderthalb Autostunden abseits von Lima, liegt eine der wenigen Zufluchtsorte für die Schwächsten der peruanischen Gesellschaft. In einer Siedlung aus hell gestrichenen Bungalows zwischen den grauen Bergen der Voranden können Waisenkinder aus dem ganzen Land das Gefühl zurückbekommen, was Ihnen am meisten fehlt: Sicherheit. Ein Gefühl, was ihnen seit dem Tod ihrer Eltern durch Erdbeben, AIDS, Unfälle oder Verbrechen genommen wurde. Von Christian Grimm.
Holprige Anreise
Um in das Westfalia Kinderdorf, wie die Siedlung offiziell heißt, zu gelangen muss der Besucher, nachdem er die Hauptsraße im Dorf Cieneguilla verlassen hat, zuerst an einem Wochenendclub vorbeifahren. Hier dienen Clubhaus, Swimmingpools und grüne Rasenflächen mit kitschigen Pferdeskulpturen der Erholung wohlhabender Hauptstädter. In Peru nur scheinbar ein Widerspruch, wo die Geschichte die Herrschaft der kleinen Elite einfach zementiert hat und die ihre Position als natürlich gegeben betrachtet.
Nach weiteren 10 Minuten auf holpriger Schotterpiste, liegt der Eingang des Dorfes hinter einer starken Betonmauer. Ein kleiner Wachmann öffnet und bittet um unsere Namen. Ein irritierender Eindruck, wir wollen doch in ein Kinderdorf und in keine Kaserne. Der Empfang ist weniger stürmisch als erwartet. Keine Kindertrauben aus denen große Augen schauen wollen sich um unsere Füße bilden, nur zwei kleine Peruaner lugen um die Ecke des Empfangshauses. Dafür empfängt uns die Leiterin mit festem Händedruck und Lächeln. Der Junge und das Mädechen halten schüchtern Sicherheitsabstand hinter ihrer Chefin.
Die Entstehung des Dorfes
Seit 17 Jahren arbeitet Liselotte Schrader-Woyke nun bereits mit den Waisenkindern im trockenen Osten Limas. Für jemanden, der das ganze Jahr in Peru lebt, hat sie überraschend helle Haut. In ihr dunkelblondes Haar mischen sich erste graue Strähnchen. „Wir hatten während der 80er Jahre selbst ein Patenkind und haben es in einem Kinderdorf besucht“, sagt Liselotte Schrader-Woyke. Das war allerdings in Deutschland und nicht in Peru. Denn in die Heimat ihrer Vorfahren ist sie zum Studieren kommen, damals Anfang der 80er Jahre.
[inspic=91,right,gal,300]Nach dem Abschluss in Pädagogik arbeitete die Peruanerin mit deutschen Wurzeln als Erzieherin in Paderborn. „Diese fixe Idee, die sich nach dem Besuch des Dorfes in Deutschland ergeben hatte, dass es so etwas auch für die Kinder in Peru geben müsste, hat mich nicht mehr losgelassen“, sagt Liselotte Schrader-Woyke. Sie schaut sich um nach Partnern und wird bereits in Paderborn fündig. Der überkonfessionelle Verein Westfalia Kinderdorf hilft in Not geratenen Kindern und unterhält bereits Kinderdörfer in Deutschland, Ghana und Indien. 1986 beginnen die Planungen in Cieneguilla. Zwei Jahre später wird das erste Wasser aus dem vorbeirauschenden Fluss abgezweigt, der sich aus dem Hochland speist und das Verwaltungsgebäude errichtet. Die Schaufeln großer gelber Bagger machen das Land eben. 1991 übernimmt Liselotte Schrader-Woyke die Leitung. „Seit dem ist die Kolonie nach und nach gewachsen. Heute haben wir 8 Familienhäuser mit 79 Kindern zwischen vier und achzehn“, sagt die Chefin nicht ohne Stolz und weist mit einem Handstrich einmal über das mittlerweile ein Hektar große Areal.
Die Bilderbuch-Kinder
Zögerlich kommen mehr Kinder an das Verwaltungsgebäude. Die Jungen und Mädchen tragen kurze Hosen und T-Shirts. Einige schützen sich mit blauen Mützen, auf denen das Logo eines deutschen Chemiekonzerns aufgedruckt ist, vor der Sonne. Die Kinder wissen nicht, wer oder was Bayer ist und niemand kann sich erinnern, wie die Kappen den Weg in das Tal gefunden haben. Carlos* kommt auf uns zu und möchte sehen, wie unsere Fotoapparate funktionieren und ob er sich auf einem der Bilder zu sehen ist. Carlos ist 10 Jahre, klein und sein Gesicht zeigt, dass er aus dem Indio-Hochland kommt. Er schaut anfangs schüchtern aus seinen großen dunklen Augen.
[inspic=112,left,fullscreen,300]Wäre sein Körper ausgemergelt, würden europäische Hilfsorganisationen sein Gesicht auf riesige Plakate drucken und für Spenden werben. Carlos lebt seit über zwei Jahren im Kinderdorf, doch auf die Fragen, warum er hier ist, antwortet er mit Schweigen. Er greift erneut nach meiner Kamera, spielt damit herum und antwortet schließlich auf meine Nachfrage. „Hier im Dorf bin ich sicher. Ich habe keine Angst, dass mich die Pitucos, die Räuber, holen“, sagt der Junge. Mehr ist aus ihm nicht herauszubringen. Ihm gefalle es aber mit all den anderen Kindern im Dorf und die Schule macht auch besonders viel Spass.
Leben und Arbeiten im Dorf
Alle Kinder besuchen die öffentlichen Schulen im Ort. Manchmal werden sie jedoch später eingeschult, wenn sie das Trauma ihre Eltern verloren zu haben, zu sehr verletzt hat. „Das wichtigste ist den Kindern wieder Selbstvertrauen zu geben“, erklärt Psychologe Alejandro. Für die Betreuung der Kinder kommt er ins Dorf und hat einen eigenen Raum für die Gespräche mit den Kindern. „Natürlich bleiben meist seelische Narben zurück“, sagt er. Bisher habe sich das Konzept der großen Pflegefamilien aber ausgezahlt.
In den einfach eingerichteten Bungalows lebt ein Pflegeelternpaar mit 10 Kindern unter einem Dach. An den grauen Ziegelwänden kleben die Poster von Fußballern oder Popstars. Die Mädchen und Jungen schlafen in Doppelstockbetten. Damit die Pflegeltern nicht überlastet werden, gibt es ein strukturiertes Beschäftigungsprogramm am Nachmittag.
(Selbst-)Versorgung
[inspic=102,left,fullscreen,300]Im Garten am steil aufschießenden Hang werden Kartoffeln, Möhren, Porree und Salat angebaut. Dazu müssen Schweine, Kaninchen und Meerschweine versorgt werden. In der Bäckerei werden täglich 500 Brötchen gebacken. „Natürlich machen das die Kinder nicht alleine. Wir haben hier 8 Angestellte, die den Kindern natürlich auch etwas beibringen“, sagt Leiterin Schrader-Woyke.
Nach den großen Ferien wird es ab März weitere handwerkliche Kurse geben. In einem neuen Gebäude soll dann Schweißen und Tischlern unterrichtet werden. Auch der Zapatero, der alte Schuster, wird seine Steinzeitmaschinen länger laufen lassen können. Vor kurzem erst wurde mit Spendengeldern aus Deutschland eine neue Solaranlage installiert. Bisher gab es nur für einige Stunden Strom.
Was zählt, ist auf dem Platz
Die Kinder scheinen diese Verbesserungen noch nicht zu sehr zu berühren. Denn jetzt sind Ferien und an das neue Schuljahr verschwenden sie noch keinen Gedanken. Viel wichtiger ist da der Fußball, der plötzlich von einem älteren Jungen auf das Fußballfeld geworfen wird. „Er sei wie Ronaldhino“, protzt er. Sein Können beschränkt sich zwar auf gutes Kreisliganiveau aber für die deutsche Gastmannschaft sollt es diesmal ausreichen. Die Jungs vom Kinderdorf gewinnen 7 zu 3. Es muss an der Höhe gelegen haben. Schließlich haben wir in den staubigen Anden gespielt.
Hier gehts zu den Bildern aus dem Kinderdorf.
* Name von der Redaktion geändert